Wie ein queerer Flame seine marokkanischen Wurzeln sucht
Der Choreograph Sidi Larbi Cherkaoui, der sich selbst als flämisch, arabisch und queer bezeichnet, hat in dem Stück „Ihsane“ viele tolle Sachen gemacht, die weit über eine reine Choreographie hinausgehen. Wurden wir, das Publikum, dem auch gerecht?Es ist das Schicksal vieler Kinder von ethnisch unterschiedlichen Eltern, dass sie sich in zwei verschiedenen Kulturen zuhause fühlen und zugleich als Fremde abgelehnt werden. Cherkaouis flämische Mutter hatte ihn zu dem Stück „Vlaemsch (chez moi)“ inspiriert, das vor drei Jahren hier im Festspielhaus St. Pölten zu sehen war. Jetzt widmet er „Ihsane“ seinem bereits verstorbenen marokkanischen Vater. Teilweise. Denn zugleich ist es auch die Geschichte von Ihsane Jarfi, der vor 13 Jahren von einem homophoben Mob mitten in Belgien umgebracht wurde. Außerdem bezeichnet der Titel eine alte arabische Generaltugend, die sich mit Güte, Wohlwollen und Freundlichkeit übersetzen ließe und die sich zum Beispiel in der bekannten arabischen Gastfreundschaft äußert. Und ein bisschen geht es auch um den Mystiker und Philosophen Ibn Al-Arabi und um einen palästinensischen Studenten namens Shaaban Al-Dalou, der vor gerade erst ein paar Monaten im Gaza-Krieg ums Leben kam.
Sie sehen also, Minimalismus ist so ziemlich der letzte Vorwurf, den man dem 48-jährigen Choreographen machen kann. Auch Licht (Fabiana Piccioli) und Bühnenbild (Amine Amharech) sind von einer 1001-nachtigen Üppigkeit, und wo das nicht reicht, sorgen vier übermannsgroße Monitore für Stimmung und Information. Die Musiker:innen – vier Instrumentalisten und zwei Sänger:innen – sind Teil des Bühnenbildes und hüllen die Performance in einen orientalischen Klangteppich. Die 19 Tänzer:innen wechseln laufend ihre Kostüme, von westlich-modern über klar arabisch bis zu praktisch nackt in Bodysuits. Zu guter Letzt hören wir Textpassagen in Englisch, Arabisch, Französisch und gefühlt auch Spanisch und Italienisch. Zum Englischen gibt es eine deutsche Übersetzung, über der Bühne zum Mitlesen. Ach ja, es werden wie in einer Show auch optische und technische Tricks eingesetzt. So zerfällt ein Leichnam vor unseren Augen zu Staub. Wow!
Das ist 90 lange Minuten durchaus herausfordernd – für die Augen, für die Ohren und für den Intellekt, der versucht, das Geschehen auf der Bühne zu dechiffrieren. Was nicht immer gelingt, dafür fehlt uns wohl ein arabisches kulturelles Erbe. Das ändert zwar nichts an der kreativen Kraft, mit der Cherkaoui seine Geschichte(n) erzählt. Es kannibalisiert nur die Schönheit und den Einfallsreichtum der Choreographie und die wirklich hohe Qualität der Musiker:innen wie der Tänzer:innen (die übrigens nicht nur aus dem Grand Théatre de Genève, dessen Ballett-Direktor Cherkaoui seit 2022 ist, sondern auch aus seiner eigenen, 2010 gegründeten Company Eastman stammen). Wer also nur des Tanzes wegen kam, der musste sich gut fokussieren. Für alle anderen war es ein reichhaltiges, perfekt orchestriertes Gesamtkunstwerk.