Es beginnt in der Schule
Identität als Schlüssel zu Vielseitigkeit und Diversität in Sidi Larbi Cherkaouis Tanzstück „Ihsane“Das jüngste Werk von Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui „Ihsane“ beginnt mit einer gemeinschaftsstiftenden Szene: 18 Personen betreten die Bühne, die an eine marokkanische Schule erinnert. Ein Mann schreibt arabische Wörter an die Wand und lädt sowohl das Publikum als auch das tanzende Ensemble ein, Aussprache und Intonation eines Liedes zu üben. Diese kollektive Interaktion schafft eine Verbindlichkeit und Vertrautheit zwischen den Personen auf der Bühne und im Zuschauerraum. Eine Liveband mit Musiker:innen aus dem arabischen Raum begleitet den gesamten Abend.
Der Titel „Ihsane“ bedeutet Güte und Freundlichkeit. Im Verlauf des Tanzabends entfalten sich Sichtweisen zu Lebensbereichen und Bipolaritäten zwischen der marokkanischen Identität und unserem gewohnten Westen. Nachdem Sidi Larbi Cherkaoui flämisch-marokkanischer Abstammung ist, sein Vater war marokkanischer Arbeitsmigrant, seine Mutter stammt aus Belgien, kennt er doppelte kulturelle Identitäten sehr gut. In „Ihsane“ setzt er sich mit dem komplizierten Verhältnis zu seinem Vater auseinander.
Wie der Eintritt in eine andere Welt steht ein Tor auf der Bühne, vermutlich der Eingang zu einer Moschee. Über Monitore erscheinen orientalische Ornamente, Teppiche werden ausgerollt, florale Muster projiziert. Später verschmelzen diese Elemente mit den Accessoires der bunten Kostüme. Die tänzerische Performance mischt archaische Bewegungen, Street Dance und klassisches Ballett und bildet eine Synthese unterschiedlicher Stile.
In einem weiteren Einspieler sind zunächst unschuldige Lämmer zu sehen. Danach Bilder geschlachteter Lämmer, die das Leben als auch das Leiden repräsentieren. Fragen wie: Wie gehen wir mit Tod und Schmerz um und wie stehen wir zu unserer Kultur? werden auf diese Weise transportiert. Gleichzeitig ist diese Szene eine Anspielung auf Ihsane Jarfi, einen jungen Marokkaner, der 2012 in Liège aus rassistischen und homophoben Motiven ermordet wurde.
Die Bühne ändert sich im Laufe des Stücks: statt der orientalischen Motive entfaltet sich ein weißer, über die Bühne gespannter Vorhang. Die Tänzer:innen wechseln ihre kulturell definierten Kostüme, schließlich stehen sie in schlichten Bodysuits auf der Bühne. Die Herkunft wird gewissermaßen neutralisiert. Tänzerisch wird all das durch synchrone Bewegungen und Akrobatik begleitet, wobei zum Schluss die Tanzschritte zunehmend klassischer ausfallen.
„Ihsane“ ist ein unvergleichliches Stück, indem der Choreograph nicht anklagt, sondern Vielfältigkeit und Versöhnung zelebriert. Die Livemusik und der Gesang bieten neben dem hervorragendem Tanzensemble einen Abend voller poetischer und sinnlicher Eindrücke bis zur letzten Minute.