Tanzkritik

Die Trauer tanzen

Der belgische Star-Choreograf Sidi Larbi Cherkaoui findet in „Ihsane” glimmende Funken der Hoffnung in der Verhandlung von Trauer, Entwurzelung und Gewalt.

Er würde jedem eine Identitätskrise im jungen Alter ans Herz legen, spricht sich Sidi Larbi Cherkaoui (48) im Vorgespräch zur Österreich-Premiere seines neuen Stücks im Festspielhaus St. Pölten nur halb im Scherz für ein Leben zwischen den Welten aus. Cherkaoui, der sich selbst als „zu weiß für einen Marokkaner und mit einem zu seltsamen Namen für einen Belgier“ charakterisiert, erkundet in „Ihsane” die Bande, die ihn mit seinem Vater, Marokko und der arabischen Welt verbinden – ein Beziehungs- und Identitätsgeflecht, das aufgrund des frühen Todes seines Vaters und Cherkaouis Identität als schwuler Mann hochkomplex ist. Als Gegenpart zum Stück „Vlaemsch (chez moi)”, das um Cherkaouis Mutter und seinen Bezug zur flämischen Kultur kreist, ist „Ihsane” eine Spurensuche in eine Welt, in der gemeinsame Trauer utopische Räume öffnen kann. 

Vom Arabisch-Unterricht zum Hate Crime

Zu Beginn findet sich eine Gruppe junger Menschen vor einem Tor (Bühnenbild: Amine Amharech) zusammen und wohnt einer Arabisch-Lektion bei – das Publikum darf gleich mitmachen. Das Ensemble macht den Körper zum Sprachrohr: Mit akribischen Handbewegungen kalligraphieren die Tänzer:innen Schriftzeichen, aus den Lautsprechern tönen Lexikon-Einträge zur arabischen Sprache. Hinter dem Bühnenbild setzen die Musiker:innen rund um Jasser Haj Youssef an der Viola d’amore ein: So öffnen sich die Türen zur Welt von „Ihsane”: Ihsane, das ist die arabische Bezeichnung für idealtypische Güte und Zuwendung.

Ihsane ist aber auch der Vorname eines jungen schwulen Mannes, der 2012 in Liège brutal ermordet wurde und dem Cherkaoui ein getanztes Denkmal setzen will: Grausam in seiner reduzierten Geometrie übersetzt Cherkaoui die Attacke auf Ihsane Jarfi in ein Duo, in dem sich Opfer und Täter kaum berühren. Die Trauerarbeit um Ihsane wird im Laufe des Abends metaphorisch verfremdet: Traum und Trauma gehen fließend ineinander über.

Wehmut und Würde

In Cherkaouis Bildsprache überlagern einander die Vorstellungswelten seiner Herkunft zwischen Europa und dem Maghreb. So arrangiert er das Ensemble zu einer überdimensionalen Pietà für Ihsane. Über Video-Screens und durch Tänzer verkörpert inszeniert er die Schlachtung eines Lamms – ein christliches Opferlamm, aber nicht auch ein Fixpunkt der marokkanischen Küche und Gastfreundschaft? Tänzerisch verbindet sich hingegen die klassische Eleganz des Ballet du Grand Théâtre de Genève mit dem Breaking und dem akrobatischen Contemporary von Eastman.

„Is there a language for grief?”, fragt sich Cherkaoui, und kreiert rund um marokkanische Artefakte wie Teppiche, Tee und Blumen immer wieder neue, eindrucksvolle Tableaus auf der Bühne. Die 17 Tänzer:innen in afrofuturistischer Kleidung (Kostüm: Amine Bendriouich) vermessen diese Räume kultureller Erinnerung mit der Hoffnung auf neue Formen von Leben und Gemeinschaft. Ihsanes Requiem endet mit einem lichtdurchfluteten Kubus über der Bühne, aus dem Sand auf die Tänzer rieselt. Ein Abschied von wehmütiger, zarter Schönheit.

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